Wenn Kinder trotzen – und was dein Kind in diesem Moment braucht

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Erinnerst du dich noch an den Artikel „An die Frau, die mich gestern im Supermarkt für verrückt erklärte“? Wir möchten hier anschließen, weil in der Diskussion rund um den Artikel immer wieder der Satz gefallen ist, dass Kinder auch Grenzen brauchen.

Grenzen.

Grenzen setzen.

Konsequenzen.

Diese Begriffe wurden zu Schlagwörtern, zu Dogmen und zu Erwartungen. Oft hören wir Sätze wie: Kinder brauchen Grenzen oder Kindern muss man Grenzen setzen. Aber ist das wirklich so und warum sind wir dieser Auffassung? Die Erwartungen der anderen Menschen in der Situation im Supermarkt war ganz klar. Ich hätte meinem Kind Grenzen setzen müssen und ihr zeigen, dass so ein Verhalten in der Öffentlichkeit nicht akzeptabel ist. Das sehe ich anders.

Mein Kind braucht keine Grenzen, mein Kind hat Grenzen

– und so haben sich die vielen kleinen Übertritte ihrer Grenzen am Ende in einem Wutanfall entladen. Über das Thema „Grenzen setzen“ haben wir bereits an anderer Stelle geschrieben – wenn es dich interessiert, dann lies bitte hier weiter: Wertschätzend Grenzen setzen – wir zeigen dir, wie es geht!

In diesem Artikel geht es aber darum, das wütende Kleinkind zu verstehen und zu schauen, wie Kinder überhaupt lernen, mit Stress umzugehen. Das ist ganz wesentlich um zu verstehen, warum ich mein 3-jähriges trotzendes Kind im Supermarkt nicht angeschrien habe oder ihr „eine Grenze gesetzt habe“, sondern ihren Gefühlen Raum gab.

 

Warum trotzen Kinder?

Es gibt so viele Gründe, warum Kinder wütend werden und einen „Trotzanfall“ haben. Manchmal sind es in unseren Augen Kleinigkeiten und Nichtigkeiten, die unsere Kinder aus dem Gleichgewicht bringen.

Ich mag den Begriff „trotzen“ selbst nicht so gerne, aber es gibt nun mal SEO und wir möchten ja, dass dieser Artikel auch gefunden wird.

Wer nach einer Defintion sucht, stößt schnell auf diesen Ansatz: Trotz als „hartnäckigen [eigensinnigen] Widerstand gegen eine Autorität aus dem Gefühl heraus, im Recht zu sein“ –mir gefällt diese Definition gar nicht. Unsere Kinder wollen mit uns kooperieren (siehe Juul), sie stellen sich nicht mit Widerstand gegen uns und auch nicht aus dem Gefühl heraus, im Recht zu sein, sondern weil sie eigene Vorstellungen haben! Diese entsprechen oft/häufig/manchmal nicht unseren – und wenn sie dann nicht zusammenpassen, sind sie wütend. Eigentlich sehr menschlich, oder?

Kinder stellen sich nicht gegen uns als „Autorität“, sondern sie zeigen einfach nur ihren Wunsch!

Dass dein Kind wütend ist, ist kein Widerstand gegen dich oder gegen andere Personen, sondern es zeigt nur, dass es über unterschiedliche Vorstellungen verärgert ist. Die Wut meines Kindes im Supermarkt richtete sich nicht gegen mich, sondern sie war enttäuscht, dass ihre Vorstellung, sie könne nun  ihr Lieblingsjoghurt mitnehmen, einfach nicht erfüllt wurde. Sie konnte nur einfach nicht in Worte fassen, dass sie die Welt jetzt gerade nicht versteht.

Kinder sind nicht respektlos, wenn sie „trotzen“ und sie machen es auch nicht aus Respektlosigkeit, sondern weil sie selbst eine Meinung haben. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt oder stellt sich die Situation anders dar, dann ist dein Kind in diesem Moment wütend und verärgert, weil es einfach noch nicht so schnell switchen kann. Es ist kognitiv noch nicht in der Lage dazu, sich schnell auf eine neue Situation einzustellen. Das betrifft übrigens auch das Trödeln.

Dein Kind möchte seine Eigenständigkeit zeigen, erleben und erfahren und damit keinesfalls Macht demonstrieren. Kinder trotzen nicht, um uns zu ärgern oder aus Berechnung. Dein Kind ist in diesem Moment von seinen Gefühlen völlig überflutet und kann sie noch nicht alleine regulieren. Diese Wutanfälle auszuhalten fällt uns schwer, weil sie uns unsere eigene Hilflosigkeit aufzeigen und weil uns Blicke und Kommentare von unserem Umfeld stressen und unangenehm sind. Trotz ist aber kein Zeichen eines Erziehungsversagens oder von fehlenden Grenzen. Trotzen ist ein völlig normales Verhalten.

Dann  liegt das Kind also schreiend am Boden, mitten im Supermarkt vor dem Kühlregal, weil sein Lieblingsjoghurt nicht da ist. Jetzt denken sich wahrscheinlich viele: „Na gut, das muss es lernen, dass es nicht immer alles haben kann.“ Stimmt, diese Erfahrung macht es auch gerade, aber dennoch ist es wütend, dass ihre Idee, sich ihr Lieblingsjoghurt mitzunehmen, nicht umgesetzt werden kann. Sie ist enttäuscht. Auch für mich ist es im ersten Moment nur eine Kleinigkeit und ich könnte ihr nun raten, sich einfach ein anderes zu nehmen.

„Ist ja nicht so schlimm“ – doch, ist es.

Für mein Kind ist es in diesem Moment schlimm und es ist umso wichtiger, dass es nun lernt, die Gefühle, die in ihr hochkommen, anzunehmen und zu regulieren, aber auch, den Stress, der dabei entsteht, auszuhalten.

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Wie Kinder lernen mit Stress umzugehen

Mehrmals wurde in der Diskussion rund um den Artikel angeführt, dass man seinen Kindern ruhig etwas zutrauen kann. Ein Kind in diesem Alter könnte schon wissen, dass es sich so nicht verhalten soll, dass es unangebracht ist, schreiend auf dem Boden zu liegen. Es soll sich also zusammenreißen und seine Gefühle bitte schön für sich behalten. Da bin ich anderer Meinung:

Wir sprechen hier von einem 3-jährigen Kind, das einen ziemlich verqueren und anstrengenden Tag hinter sich hatte. Es musste seinen Stress einfach mal rauslassen. Wenn wir Erwachsene gestresst sind, dann gehen wir eine Runde laufen, machen Sport, nehmen ein Vollbad oder trinken ein Glas Wein. Wir haben gelernt, mit dem Stress umzugehen. Ein 3-jähriges Kind kann aber noch nicht auf derselben Ebene wie Erwachsene mit Stress umgehen, weil es noch viel impulsiver handelt.

Wenn wir Stress haben, dann steigt das Stresshormon Cortisol deutlich an. Für ein Kind bedeuten schon kleine Veränderungen im Alltag Stress. Eine laute Musik, wenn es lange weinen muss, wenn es seinen Gefühlen ausgeliefert ist, eine unbekannte Person streichelt dem Kind über den Kopf, die Eltern verlassen den Raum, etc. Studien haben gezeigt, dass sich Stress ungünstig auf die Entwicklung des Kindes auswirkt. Stress fördert das Gewohnheitsverhalten und verringert die kognitiven Fähigkeiten (vgl. Studie), die Kinder leiden unter klassischen Burn-Out-Symptomen wie Einschlafschwierigkeiten, Kopf- und Bauchschmerzen, Kinder berichten über überdurchschnittlich starke somatoforme Belastungen, sie verfügen über eine niedrig Problemlösungskompetenz, haben ein hohes Aggressionspotential, Versagensängste und negative Emotionen (vgl. Studie). Mehr über die Auswirkungen von Stress kannst du hier nachlesen:

Schreien lassen oder warum uns Stress krank macht

Interview mit Dr. Renz-Polster: Das passiert, wenn du dein Baby schreien lässt

Es gibt Entwicklungsmodelle die deutlich zeigen, wie Kinder im Laufe ihrer Entwicklung auf Stress reagieren. Und erklären damit auch, dass es eben nicht möglich ist, seinem Kind einfach nur mehr zuzutrauen. Bis ins Volksschulalter sind unsere Kinder darauf angewiesen, durch Nähe, Körperkontakt, Zuwendung und Beziehung getröstet und liebevoll begleitet zu werden. Zwar schaffen es sogar schon Babys, sich bei leichtem Stress durch Lutschen am Daumen oder Saugen an der Brust bzw. am Schnuller selbst zu beruhigen, doch wenn der Stress zu groß wird, dann sind sie auf Zuwendung von außen angewiesen, um sich beruhigen zu können. Ein Kind schafft es einfach noch nicht, sich alleine zu beruhigen und es muss dies auch nicht lernen, indem es aufs Zimmer geschickt wird.

 

Kinder brauchen uns für ihre emotionale Entwicklung

Bis nach dem Volksschulalter (und auch noch darüber hinaus) brauchen Kinder uns für ihre emotionale Entwicklung. Wenn ein Kind im Wutanfall fest umarmt wird und die Berühung annehmen kann, dann bekommt es genau das, was es braucht: Sicherheit und das Gefühl, dass es nicht alleine ist. Nicht alle Kinder ertragen in dieser Situation jedoch Berührungen und Nähe – jedes Kind ist anders und du als Muter/Vater kennst dein Kind und weißt, ob es eine Umarmung aushält oder nicht.

Das schließt aber nicht aus, dass ich mein Kind z.B. davon abhalte die Regale in seiner Wut auszuräumen. Es erscheint mir nur falsch, mein emotional überfordertes Kind zu ignorieren und zu versuchen ein Verhalten zu erzwingen, das sich die Gesellschaft wünscht. Ein Kind in einer solchen Situation ist nicht zu ermahnen oder zu schimpfen oder zu ordentlichem Benehmen anzuhalten, sondern es muss begleitet werden, damit es keine Überforderung erlebt. Denn mit drei Jahren ist es noch nicht in der Lage, diese Situation selbst zu schaffen –es braucht emotionale Begleitung.

Natürlich kann ich nicht bei jedem Kind gleich reagieren – jedes meiner drei Kinder ist anders und braucht auch andere Strategien, die aber nichts daran ändern, dass es ein liebevoller und bedürfnisorientierter Zugang ist. Bei meiner mittleren Tochter hätte meine Reaktion nichts geholfen, ich hätte sie aus der Situation nehmen müssen, damit sie sich beruhigt. Sie wäre damit überfordert gewesen und hätte wirklich eine räumliche Veränderung gebraucht. Also: Einkauf abbrechen, Kind hochnehmen, raus aus dem Geschäft, beruhigen lassen und dann weiter einkaufen. Die älteste Tochter wäre gelassener damit umgegangen und hätte schnell eine Alternative gefunden, die sich für sie richtig anfühlt. Allerdings war sie auch diejenige, die auf eine Umarmung mit Wut reagiert hätte und meine Berührungen hätten die Situation nur verschlimmert. Jede Mama wird hier einen respektvollen Umgang für ihr Kind finden, wenn sie erstmal versteht, warum das Kind so reagiert und in diesem Moment nicht anders kann.

 

Vertrauen als Basis für den Umgang mit Stress

Eine gute Eltern-Kind-Bindung baut auf Vertrauen auf. Vertrauen in die Entwicklung des Kindes, Vertrauen, dass mein Kind mir sagt, was es baucht und auch Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten und mein Bauchgefühl. Ich vertraue darauf, dass ich mein Kind bei seiner Entwicklung unterstütze, wenn ich sensibel auf ihre Bedürfnisse eingehe und ihr Raum für Autonomie gebe. Sie ist in einem Alter, da sind Autonomie, Selbstwirksamkeit und das eigene Handeln wichtige Entwicklungsschritte, die sie erleben darf und die ich jeden Tag unterstützen kann.

Ich bin mir bewusst, dass ich jeden Tag oft genug über ihren Kopf hinweg entscheide und sie nicht in meine Entscheidungen miteinbeziehe. Das beginnt in der Früh beim Aufstehen und dem Zeitpunkt des Weckens, den ich bestimme, das geht weiter beim Frühstück, welches Müsli ich gekauft habe und sie nun essen kann. Das geht weiter beim Anziehen, beim Kindergarten, wann ich sie wieder abhole, wie wir den Nachmittag verbringen, welche Produkte wir einkaufen etc.

Es wäre nur eine Überforderung, das Kind sich selbst zu überlassen oder es für seine Gefühle zu schimpfen bzw. zu bestrafen.

Warum das schlecht wäre, zeigt auch ein Blick in die neuronalen Grundlagen eines Kindes: Die linke Hirnhälfte ist auf Urlaub!

 

Die linke Hirnhälfte ist auf Urlaub

Im Gehirn des Kleinkindes dominiert die rechte Hirnhälfte. Also jene Hirnhälfte, die für die Kreativität, die Spontanität, die Intuition verantwortlich ist. Die rechte Hirnhälfte ist im Gegensatz zur analytisch linken Hirnhälfte sehr emotional, sehr impulsiv und leichter ablenkbar – und somit auch unsere Kinder.

Erfährt das Kind nun ein „Nein“ oder merkt es, dass seine Vorstellung von der Situation mit jener der Erwachsenen abweicht, dann helfen keine logischen Antworten wie „Nimm dir doch einfach einen anderen Joghurtbecher“. Das Kind ist wütend, es ist außer sich, es tritt, spuckt, weint, beißt. Worte helfen in dieser Situation nicht weiter und so scheitern Eltern an ihren Erklärungsversuchen und „Appellen an die Vernunft des Kindes“. Das kann dein Kind gar nicht verstehen!

Was also tun?

Das Kind sich selbst seinen Gefühlen überlassen, es „ausspinnen lassen“, bis es völlig verschwitzt und aufgelöst ist?

Keine gute Lösung.

Das Zauberwort heißt: Spiegeln! Die rechte Gehirnhälfte verfügt über eine wunderbare Fähigkeit, die uns in diesen Situationen hilft. Sie kann nonverbale Kommunikation übersetzen. Wenn du die Gefühle deines aufgebrachten Kindes spiegelst, wenn du mit Hilfe von Stimme und Körpersprache versuchst dein Kind zu beruhigen, dann wird es viel schneller klappen. Warum? Weil die rechte Gehirnhälfte dolmetscht und diese nonverbale Kommunikation für die linke Hirnhälfte übersetzt.

Klingt verrückt, nicht wahr? Als ich erstmals bei Karp darüber gelesen habe, musste ich den Kopf schütteln. Doch aus irgendeinem Grund blieb mir diese Möglichkeit im Kopf und bei der nächsten Gelegenheit habe ich es ausprobiert. Ich war erstaunt, dass sich mein wütendes Kleinkind deutlich schneller beruhigte und hielt es erstmals für einen Zufall. Aber die Zufälle häuften sich und so ist diese Methode heute jene, die ich immer wieder empfehle. Spiegeln. Wie das funktioniert kannst du in unserem Artikel „Das wütende Kleinking beruhigen“ nachlesen.

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Quellen:
Harvey Karp: Das glücklichste Kleinkind der Welt: Wie Sie Ihr Kind liebevoll durch die Trotzphase begleiten *Jesper Juul: Leitwölfe sein: Liebevolle Führung in der Familie *Jesper Juul: Dein kompetentes Kind: Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie *Jan-Uwe Rogge: Wenn Kinder trotzen *Daniel Siegel: Achtsame Kommunikation mit Kindern: Zwölf revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes *Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher *Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen, Kapitel 7 Warum Kinder trotzen

 

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