Liebe Lehrerin,
es ist Woche fünf und ich wurde schon zu einem ersten Gespräch eingeladen. Eine unangenehme Situation für mich. Dir ist bestimmt aufgefallen, dass mein Kind so seine Probleme mit den Hausübungen hat. Nicht, dass er seine Hausübungen nicht schaffen würde. Er will nicht. Ich werde dir erklären warum, dass du dich nicht jeden Tag bei ihm darüber beschwerst, dass er seine Pflichten vernachlässigt und ich auch nicht.
Ich möchte für mein Kind, dass es Kind sein darf.
Bitte verstehe mich nicht falsch, ich greife dich nicht dafür an, dass du Hausübungen verteilst. Sie sind ein Teil des Schulsystems, dem wir unterliegen und ich bin sicher, dass du deine Gründe hast, den Kindern noch Hausübungen zu geben. Ich will die Hausübungen per se auch gar nicht schlecht reden, weil ich auch davon überzeugt bin, dass Wiederholungen wichtig sind. Auf der Uni war ich dankbar, weil ich nur einige Stunden bei jedem Professor anwesend war und der Rest des „Stoffes“ noch selbst vertieft werden musste. Damals war ich 19. Mein Kind ist 6 Jahre alt.
Mein Kind ist nicht nur ein paar Stunden bei dir. Mein Kind verbringt den Großteil seines Tages in der Schule. Ich habe nachgerechnet und komme auf gut 30 Stunden pro Woche, die mein Kind in der Schule verbringt. Du hast mir bei unserem ersten Gespräch gesagt, dass mein Sohn gut mitkommt: Er tut sich leicht, kann gut lesen, schreibt gut und ist interessiert. Kooperativ war auch ein Wort, das gefallen ist. Aber das ist nicht der Grund, warum mein Sohn seine Hausübungen nicht macht.
Ich bin überzeugt davon, dass Kinder auch Freiraum und Zeit für Langeweile brauchen. Ich will, dass mein Sohn nach der Schule Freizeit hat. Ja, Freizeit. Zeit zum Nichtstun, zum Seele baumeln lassen, zum Freunde treffen, zum Radfahren oder was auch immer er machen möchte. Nach einem 5-6 Stunden-Tag, womöglich noch mit Freizeitaktivitäten im Anschluss, ist die Aufmerksamkeitsspanne bei null. Er kann einfach nicht mehr – selbst, wenn ihm der Stoff leicht fällt, was du mir ja bestätigt hast. Und genau weil er keine Schwierigkeiten hat, zwinge ich ihn nicht dazu, die Hausübungen zu erledigen. Er hat es satt, weitere Seiten und Blätter auszufüllen und wenn ich ehrlich bin: Ich auch. Kinder brauchen eine Pause.
Es heißt ja nicht, dass sie nichts machen. Mein Sohn z.B. liest jeden Abend noch, bevor er ins Bett geht. Vielleicht liest er nicht die Seite, die du ihm aufgegeben hast, weil sie ihm zu leicht ist, sondern er liest in einem Buch, das er sich aus der Bücherei geborgt hat.
Wir sprechen auch viel über Mathematik und schauen, wo wir im Alltag überall die Rechnungen einbauen können. Gehen wir also einkaufen, lasse ich ihn rechnen. Beim Kochen lernt er spielerisch umrechnen von dag in g, weil er es gerade braucht. Und auch auf langen Autofahrten rechnen wir.
Mein Sohn notiert immer mit, wenn wir etwas einkaufen müssen. Er schreibt unsere Einkaufszettel und erweitert so seinen Wortschatz.
Wir unterhalten uns darüber, was in der Welt passiert, wir beobachten den Rhythmus der Natur und unterhalten uns darüber, warum die Blätter von den Bäumen fallen oder warum im Winter schon die ersten Knospen wieder zu sehen sind. Wir stellen Fragen über das Leben, das uns umgibt und suchen Antworten.
Wir reisen mit unserem Sohn. Er lernt dabei viel über andere Kulturen, andere Sprachen, andere Länder, er kennt sich auf der Weltkarte aus, kann Stadtpläne lesen und ist von Reiseführern fasziniert. Genauso lernt er dabei über die Gezeiten, das Klima, die Natur und erfährt Begegnungen, die sein Leben prägen.
Liebe Lehrerin, bitte versteh diesen Brief nicht falsch. Ich möchte meinem Sohn die Hausübungen derzeit nicht aufbürden, weil ich glaube, dass in den alltäglichen Erfahrungen so viel mehr für ihn herausspringt, als wenn er noch zwei Arbeitsblätter ausfüllt. Mir ist wichtig, dass er draußen spielen kann, Zeit hat, den Kopf freizukriegen und noch Kind sein darf. Du hast ihm so viel Wertvolles beigebracht, du hast ihm eine Grundausstattung mit auf seinen Weg gegeben – deine Arbeit ist wichtig und ich schätze sie sehr. Du hast ihm diese Grundfertigkeiten besser vermittelt, als ich es je könnte. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber solange mein Sohn gut mitkommt, werde ich ihn auch weiterhin nicht zwingen, die Hausübungen zu machen.