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Kinder sind leicht zu manipulieren. Es scheint eine Methode in der Erziehung zu geben, die fast alle Probleme löst. Zumindest die Probleme der Eltern, wenn wir ganz genau sind. Und gelegentlich nutzt diese Methode wohl jeder Elternteil mal für seinen Vorteil aus. Warum? Weil man Kinder dazu bringt beinahe alles zu tun, was man von ihnen möchte. Man nennt es „positives Verstärken“.
Was hier so nett und freundlich klingt, ist aber eine Irreführung: Mit dem positiven Verstärken verstärkt man nicht das Verhalten des Kindes per se, sondern nur das Verhalten, das einem auch gefällt. Sagt das Kind „Bitte“ und „Danke“, wird diese Leistung mit einem „Super, gut gemacht“ verstärkt und das Kind merkt was? Ah, meine Eltern freuen sich. Ein bestärkendes und positives Lob tut auch gut – kritisch wird es bei den „Belohnungssystemen“, wie etwa beim Sauberwerden. Aber auch bei vielen anderen Themen wie einer gesunden Jause, das Zimmer aufräumen, an Regeln halten etc. kommt es zum Einsatz. Mithilfe von Sternchen oder anderen Aufklebern soll ein gewünschtes Verhalten beim Kind erzielt werden – die Belohnungen sollen motivierend wirken. Verstärkt man nur das gewünschte Verhalten, schwächt man das Kind in der Wahrnehmung seiner Bedürfnisse. Es wird sich so verhalten, wie es die Eltern wünschen, um positives Feedback zu erhalten – die eigenen Bedürfnisse und Wünsche werden dabei Schritt für Schritt ausgeblendet.
Dieses Verstärkerprinzip geht auf den Behaviorismus zurück und die Annahme, dass das Lernen bei Menschen genauso funktioniert wie bei Ratten im Versuchslabor. Doch das Loben ist nicht der einzige Punkt, der kritisch zu bedenken ist.
Belohnungsplan und Token-Systeme
Um dem Kind sein Verhalten zu veranschaulichen, führen viele Eltern einen Belohnungsplan in die Familie ein – ein Erziehungsmittel, das uns sehr vertraut scheint und sich auch deshalb nicht falsch anfühlt. Wenn selbst in Kindergärten und Schulen diese Pläne aufhängen können sie ja nicht so falsch sein. Es funktioniert so: Für jedes Mal aufs Klo gehen, die Wäsche wegräumen oder sonst einem Verhalten, das man bei seinem Kind gerne sehen würde, bekommt es eine Belohnung, etwa einen Stern, ein Herzchen oder sonst was. Hat es eine bestimmte Anzahl gesammelt, kann es diese gegen etwas eintauschen. Dieses System klingt recht harmlos – zumindest auf den ersten Blick.
Ist es aber nicht: Hinter diesem Prinzip steckt das „Token-System“ – ein Verfahren aus der Verhaltenstherapie, das auf der operanten Konditionierung beruht. Das bedeutet nicht mehr, als dass ein gewünschtes Verhalten durch Einsatz systemischer Anreize erzielt werden soll. Wer genug Tokens, also Herzchen, Sternchen oder Smiley gesammelt hat, kann diese gegen einen primären Verstärker, ein neues Spiel, einen Ausflug oder eine Süßigkeit, eintauschen. Und wenn das immer noch harmlos klingt, dann sollte es spätestens jetzt bedenklich werden: Diese Token-Systeme wurden früher in psychiatrischen Kliniken oder Heimen eingesetzt. Die ersten Aufzeichnungen von Ayllon und Azrin behandeln das Token-System mit schizophrenen Langzeitpatienten. Nicht mit Kleinkindern im Trotzalter und im familiären Kontext. Und dennoch werden sie hier verwendet.
Darum sind Belohnungssysteme problematisch
Sie haben nur einen Haken: Belohnungssysteme funktionieren nicht, wenn ein Kind noch nicht bereit ist, das gewünschte Verhalten zu zeigen. Ein Kind, das noch nicht bereit ist sauber zu werden, wird an dem Token-System scheitern und sein Scheitern anschaulich vor Augen geführt bekommen. Es sieht jeden Tag, dass es keinen Sticker bekommen hat, weil es nicht rechtzeitig aufs Töpfchen ging – weil es noch gar nicht so weit ist. Ein Kind im Trotzalter wird wegen einem Sternchen nicht weniger Trotzanfälle haben, weil es sich noch gar nicht unter Kontrolle hat. Stattdessen sinkt sein Selbstwertgefühl, weil es glaubt, es stimmt etwas nicht mit ihm. Bzw. die Eltern glauben, sie müssten an ihrem Kind etwas verbessern. Nicht immer eignen sich Token-Systeme, um das gewünschte Verhalten zu erzielen. Als Feedback für die Eltern (wie oft etwa das Bett nachts trocken blieb) oder als Steigerung des Selbstwertgefühls für die Kinder kann es positiv sein. Die Strafe, nicht belohnt zu werden ist nur eines von Problemen, die Belohnungssysteme mit sich bringen. Hat es die Aufgabe nicht zur Zufriedenheit der Erwachsenen erfüllt, bleibt die Belohnung aus – aber ist das wirklich fair? Hat das Kind überhaupt die Chance bekommen mitzubestimmen oder muss den Zielen der Erwachsenen entsprechen? Und klar, welches Kind für die Belohung nicht wollen? Ihnen vorzuwerfen, sie würden sich nicht an die Abmachungen halten, die ihnen die Erwachsenen vorgegeben haben, halte ich für sehr unfair.
Ein weiteres Probem ist, dass dem Kind mit einem Belohnungssystem die Chance genommen wird, eigene Problemlösungen zu üben. Die Eltern lösen den Konflikt für ihr Kind, indem sie ein erwünschtes Verhalten vorgeben und steuern so das Verhalten des Kindes von außen. Vielleicht hätte das Kind ja eine eigene Ideen gehabt, wenn es die Chance bekommen hätte.
Dem Kind wird auch die Erfahrung genommen, den innewohnenden Lohn einer Aufgabe zu schätzen: Sammelt es für das aufgeräumte Zimmer 10 Sticker, darf es sich ein Geschenk aussuchen, ein Eis essen oder sonst was. Das Kind lernt jedoch nicht aus einer intrinsischen inneren Motivation das Zimmer aufzuräumen, sondern nur wegen der Belohnung. Es wird ihm nicht zugetraut zu erfahren, dass die innere Belohnung ausreicht, um auch weiterhin das Zimmer aufzuräumen. Das Erfolgserlebnis es alleine geschafft zu haben und die Vorteile eines aufgeräumten Zimmers werden ihm verwehrt.
Und es gibt noch ein „Problem“: Diese Systeme vermitteln Kindern die Botschaft, sie könnten die Aufgabe gar nicht von sich aus erfüllen, wenn sie dafür nicht belohnt werden. Versteckt erfahren die Kinder jedoch auch, dass es sich bei der belohnten Aufgabe um etwas Unangenehmes handeln muss, denn sie bekommen auch keine Belohnung wenn sie ein Eis essen.
Menschliche Beziehungen sind komplex
Die bestechend einfachen Methoden sind immer mit einem kritischen Auge zu betrachten: Die menschlichen Beziehungen und die Grundannahme, dass Kinder Beziehungen brauchen und kooperieren wollen sind doch ein wenig komplexer als das Leben der Ratten. Auch wenn ich deren Existenz nicht abwerten möchte. Doch alles, was wissenschaftlich belegbar ist, ist einfacher zu erklären als eine Gefühlsebene, die dann gerne als „esoterisch“ abgestempelt wird. Schauen wir uns ein Beispiel an:
Ein Kind, das sich in den Schlaf schreit, wird zwar irgendwann einschlafen, es hat aber nicht unbedingt schlafen gelernt. Sondern es hat auch gelernt, dass es alleine gelassen wird. Klar wird die Statistik irgendwann zu dem Ergebnis kommen, dass Kinder, die man schreien lässt, damit aufhören und (ein-)schlafen. Kinder, auf deren Schreien reagiert wird, werden wieder schreien. Soll daraus die Schlussfolgerung sein, dass es besser ist sein Kind schreien zu lassen? Nein. Dagegen sprechen sich viele Experten dezidiert aus – Schreien lassen tut dem Kind nicht gut. Und es gibt genügend Gründe, die gegen diese Methode sprechen, die jedoch wissenschaftlich nur schwer messbar sind. Das ist jetzt nur ein Beispiel von vielen.
Wenn also das Ignorieren oder Bestrafen von schlechtem Verhalten dazu führt, dass das Kind damit aufhört, dann wäre ja der Umkehrschluss, dass positives und gewünschtes Verhalten durch Belohnungen verstärkt wird, oder? Im Prinzip ja, wir können unsere Kinder so erziehen und es wird Wirkung zeigen. Aber haben wir nicht höhere Ansprüche an die Erziehung als angepasste Kinder? Wollen wir unabhängige, ferie Menschen oder sollen Kinder einmal in der Gesellschaft funktionieren?
Beziehung ist das Zauberwort
Wir sind überzeugt, alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder und geben auch ihr Bestes, was ihnen möglich ist und was sie für richtig halten. Es ist wichtig, dass wir von Anfang an feinfühlig und liebevoll mit unseren Kindern umgehen und sie liebevoll begleiten, wenn wir wollen, dass unsere Kinder eigenständige und selbstbewusste Erwachsene werden. Dann müssen wir in die Beziehung zu ihnen investieren statt in das Aufstellen eines strikten Regelwerkes. Ziele wie ein Leben ohne Druck und ohne Angst, von Menschen umgeben, die ihnen gut tun, erreicht man nicht durch „Härte“, sondern durch Empathie und Einfühlung. Kinder brauchen eine sichere Bindung, die wie ein starkes Band zwischen ihnen und ihren Eltern verläuft. Jedes Baby geht eine Bindung ein, das ist ein reiner Überlebenstrieb – wie gut sich diese Bindung jedoch entwickelt, hängt davon ab, wie die Interaktion stattfindet. Bei einer sicheren Bindung kann das Kind nicht nur seine Bedürfnisse äußern, sondern erfährt auch die entsprechende prompte Reaktion darauf.
Belohnungssysteme schaffen eine Distanz zu unseren Kindern. Je mehr diese Methoden zum Einsatz kommen, desto mehr wird das Kind von der Bewertung von außen abhängig werden und den Kontakt zu sich verlieren. Eltern tun ihrem Kind damit nichts Gutes, wenn sie ihm eine Belohnung für ein gewünschtes Verhalten in Aussicht stellen. Die Gründe dafür haben wir oben schon erläutert. Es gibt doch den schönen Spruch, dass es egal ist, wie wir unsere Kinder erziehen, sie machen uns ohnehin alles nach.
- Nehmen wir unsere Kinder in den Arm und trösten wir sie.
- Hören wir auf sie zu bewerten, zu formen oder zu optimieren.
- Treten wir mit ihnen in Beziehung, bleiben wir mit ihnen in Kontakt und geben wir ihnen die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.
- Bleiben wir authentisch, empathisch und wohlwollend.
- Nehmen wir unsere Kinder an wie sie sind.
- Lieben wir unsere Kinder bedingungslos.
- Akzeptieren wir ein Nein und lassen wir sie Selbstwirksamkeit spüren.
- Geben wir unseren Kindern keinen Weg X vor, sondern begleiten wir sie auf ihrem individuellen Weg und lassen wir uns auf sie ein.
Begegnen wir unseren Kindern auf diese Weise, dann geben wir ihnen, was sie brauchen: Liebe, fernab von Erwartungen, Vertrauen und Unterstützung.
Alternativen zu Belohnungssystemen
Kinder brauchen Beziehungen, echte Beziehungen. Sie brauchen Menschen, die sich auf sie einlassen, sie verstehen und ihnen vertrauen. Kinder brauchen Liebe, Zuwendung, echte Verbundenheit und das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. All das bekommen sie im Zusammenleben mit Menschen, die sich ihnen öffnen, sie annehmen und sie begleiten und ihnen keinen bestimmten Weg vorgeben. Dann braucht es auch keine Belohnungssysteme, denn sie lernen vom Leben in der Gemeinschaft. Sie nehmen sich die Erwachsenen als Vorbilder und schauen, wie diese sich verhalten. Nur so können sie spüren, was für sie gut ist, was ihnen gut tut und welche Stärken sie haben. So lernen sie, sich über ihre eigenen Errungenschaften zu freuen, statt von dem Urteil anderer abhängig zu sein.
Quellen:
Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und BestrafungAlfie Kohn: Der Mythos des verwöhnten Kindes: Erziehungslügen unter die Lupe genommenJesper Juul: Dein kompetentes Kind: Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze FamilieThomas Gordon: Familienkonferenz: Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und KindCarlos Dr. González: In Liebe wachsen: Liebevolle Erziehung für glückliche Familien
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